Samstag, 8. Juni 2013
Zu den Geschehnissen in Istanbul
Die Auseinandersetzung zwischen türkischer Polizei und Demonstrationen kostete inzwischen zwei Demonstranten und einen Polizisten das Leben. Mehr als 4000 Menschen verletzt. Die genauen Umstände lassen sich der Berichterstattung nicht entnehmen, zumal der Fokus nicht auf die Geschehnisse gerichtet scheint, sondern daraus eine Propagandaschlacht zwischen Befürwortern und Gegnern Erdogans und des EU-Beitrittsgesuchs macht.
Die Politik zeigt sich mal wieder unseriös widersprüchlich, wenn Erdogan einerseits demokratisch vorgebrachte Forderungen von Herzen begrüßt, um die Protestierenden zu besänftigen, andererseits vor den eigenen Anhängern die Demonstranten als "Terroristen" bezeichnet und sich dafür mit Sprechchören hat feiern lassen, in denen es heißt: "Wir würden für Dich sterben, Erdogan!" - Sehr schlecht, wenn es so war und er dann nicht gesagt hat: "Niemand soll für mich sterben wollen. Und erst recht soll niemand für mich töten wollen." Wenn Erdogan stattdessen die blöden Parolen genießt, unterscheidet ihn moralisch nichts von Assad, dem er unsinnigerweise fortlaufend den Krieg erklärt.
Aber auch die EU-Reaktionen sind unseriös widersprüchlich, wenn der EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle seine Kritik an Erdogan mit dem Lippenbekenntnis garniert, die EU stehe zu den Beitrittsverhandlungen, während Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble eine Vollmitgliedschaft der Türkei auch für "die ferne Zukunft" ausschließt. Das Thema fällt nicht so ganz in seine Zuständigkeit - und die fernere Zukunft kann vielleicht auch ganz andere Entscheidungen bringen, dass sich die Türkei als EU-Vollmitglied zum idealen Bindeglied mit den islamischen Staaten entwickelt.
Und die Kanzlerin "mahnt Erdogan zum Gewaltverzicht"? - Der Appell an beide Seiten wäre üblicher, wenn überhaupt, denn vielen Staaten bleibt bei ähnlichen Anlässen Merkels Nachhilfe im Fach Politik gänzlich erspart, wenn es bspw. um die Durchsetzung irgendeiner Sparpolitik geht - und so einseitig klingt das doch sehr nach Retourkutsche für Erdogans Auftritte in Deutschland, wenn er sich als Regent der türkischen Minderheiten aufspielte und Assimilation pauschal als Menschenrechtsverletzung verleumdete, als sei Assimilation nicht immer auch eine Option der Freiwilligkeit, es sei denn, da wäre jemand nationalistisch verkatert und macht aus Vereinigung "Verrat".
Auch wer (wie wir Berliner) viele Informationszuträger hat, was da in Istanbul los sei, wird die Ursachen, Anlässe, die Methoden und Ziele der Akteure kaum einschätzen können, denn Istanbul ist eben eine Megametropole, die für jederlei guten oder schlechten Protest genügend Masse auf die Straße zu bringen vermag, um jede gute oder schlechte Regierung in Nöte zu bringen. Nach den Erfahrungen mit Libyen und Syrien sollten sich Frau Merkel und ihre Kollegen eher dreimal überlegen, ob die Destabilisierung missliebiger Regimes gescheit ist, wenn man am Ende nichts in der Hand hat, was daraus wird, denn "schlimmer geht immer" ganz leicht und sehr viel schwerer die Besserung.
@Frau Merkel, wenn Sie ein Problem mit Erdogan oder der Türkei haben (ich habe mindestens drei), dann sprechen Sie es mit ihm endlich mal konzentriert durch, aber wenn Sie sich aus den Istanbuler Protesten eine Schwächung Erdogans erhoffen, dann werden am Ende dort wie hier bloß stupider Nationalismus triumphieren, also alle Menschen verlieren.